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Francis Fukuyama

Francis Fukuyama

amerikanischer Politologe; Prof.; Ph.D.
Geburtstag: 27. Oktober 1952 Chicago/IL
Nation: Vereinigte Staaten von Amerika (USA)

Internationales Biographisches Archiv 20/2022 vom 17. Mai 2022 (mo)
Ergänzt um Nachrichten durch MA-Journal bis KW 39/2022


Blick in die Presse

Herkunft

Yoshihiro Francis Fukuyama wurde am 27. Okt. 1952 in Chicago, Illinois (USA), als Sohn des Soziologen und Religionsdozenten Yoshio Fukuyama und dessen Frau Toshiko Kawata Fukuyama geboren. Seine Großeltern waren aus Japan in die USA eingewandert.

Ausbildung

F. wuchs als Einzelkind in Manhattan auf, später in State College, Pennsylvania, wo er die Highschool besuchte. Anschließend studierte er Altphilologie an der Cornell University (Bachelor of Science 1974) und Politikwissenschaft an der Harvard University (Ph.D. 1981).

Wirken

Karriere als Politberater und HochschulprofessorF. begann 1979-1981 in Washington, DC, als Senior Social Scientist bei der RAND Corporation, einem Institut, das verschiedene US-Regierungen mit strategischen, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Analysen beraten hat. Damals beschäftigte sich F. vornehmlich mit der Außenpolitik der Sowjetunion, besonders mit deren Interessen in den Entwicklungsländern. Auch 1983-1989 und 1995/1996 arbeitete er für die RAND Corporation. Während der Amtszeit der republikanischen Präsidenten Ronald W. Reagan und George Bush Sr. war F. zweimal im politischen Planungsstab des Außenministeriums tätig. 1981/1982 war er mit Fragen des Nahen Ostens befasst und gehörte auch der US-Delegation bei den israelisch-ägyptischen Verhandlungen über die Autonomie der Palästinenser an. 1989 war F. im Außenministerium stellv. Direktor des Planungsstabes für politische und militärische Fragen in Europa. 1996-2001 besetzte er die Hirst Professur für Public Policy an der George Mason University in Fairfax, Virginia (bei Washington), 2001 wechselte er auf die Bernard L. Schwartz Professur für International Political Economy an der Paul H. Nitze School of Advanced International Studies (SAIS) der Johns Hopkins University in Washington, DC. Seit Juli 2010 ist er Olivier Nomellini Senior Fellow am Freeman Spogli Institute for International Studies der Stanford University.

Hohe Wellen mit "Ende der Geschichte"Schlagartig berühmt wurde F. im Sommer 1989 durch die Veröffentlichung des kontrovers diskutierten Aufsatzes "The End of History" in der konservativen Zeitschrift National Interest. In dem 1992 publizierten Band "The End of History and the Last Man" führte F. die Gedanken weiter aus. Im Grunde handelte es sich bei diesen Werken nicht um eine rein wissenschaftlich-philosophische Arbeit, sondern um eine politisch motivierte Zeitdiagnose (vgl. ZEIT, 4.6.1993). Anders als viele seiner Kritiker verstand F. unter dem Ende der Geschichte nicht einen definitiven Abschluss im Sinne eines erreichten Zustands, sondern er ging, in Anlehnung an Hegel und Marx, von einer Abfolge mehrerer Entwicklungsstufen gesellschaftlicher Entwürfe aus. Das mit dem westlichen Liberalismus konkurrierende Gesellschaftsmodell des Sozialismus sah er 1989 als gescheitert an und identifizierte mit dem Ende dieses Antagonismus auch "das Ende der ideologischen Entwicklung der Menschheit durch die allgegenwärtige westliche, liberale Demokratie als die endgültige Form des Zusammenlebens" (zit. nach FR, 11.9.1989). F. behauptete nicht, die Ideale von Demokratie und Marktwirtschaft seien bereits weltweit verwirklicht, er postulierte vielmehr nur den Sieg dieser Prinzipien als Richtlinie für weitere Entwicklungen und sah dazu keine grundlegende Alternative (vgl. WELT, 17.2.2000), wohingegen sein akademischer Mentor, Samuel Huntington, einen "Kampf der Kulturen" prognostizierte. In anderen Arbeiten präzisierte F. seine Vorstellung von den Antriebskräften für die geschichtliche Entwicklung und benannte dabei das immaterielle Streben nach Anerkennung sowie den materiellen Wunsch nach Genuss eines relativen Wohlstands (vgl. Stgt. Z., 2.3.1992). Im Liberalismus sah er diese Grundbedürfnisse am besten gewährleistet.

In anderen Bänden beschäftigte sich F. mit grundlegenden Aspekten einer liberalen Gesellschaft. So legte er in "Trust: The Social Virtues and the Creation of Prosperity" (1995) am Beispiel ländervergleichender Studien dar, wie Tugenden und Normen Vertrauen schaffen und so das Fundament für wirtschaftliche Entwicklung legen können. In "The Great Disruption" (1999) machte er gesellschaftliche Brüche und den radikalen Individualismus nach 1960 für die Aufzehrung des "Sozialkapitals" während der Entwicklung von der Industrie- zur Informationsgesellschaft verantwortlich. Als Basis des Sozialkapitals nannte er in "Social Capital and Civil Society" (2000) Erziehung, Religion und die geistige Mobilität als Folge der Globalisierung.

In seinem wissenschaftskritischen Werk "Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolution" (2002) setzte sich F. mit dem wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt in der Humanmedizin und Biotechnologie auseinander und plädierte, auch als Mitglied der Bioethik-Kommission der Regierung von George W. Bush (2001-2004), für eine effektive Kontrolle durch die Politik und durch nationale und supranationale Institutionen: Sie sollten "unterscheiden zwischen den biotechnischen Fortschritten, die dem Menschen nützen, und jenen, die eine Bedrohung für seine Würde und sein Wohlergehen bedeuten" (ZEIT, 23.5.2002). Damit setzte er sich zwischen die Stühle des gespaltenen konservativen Lagers, dem er zugerechnet wird, dem "big business" einerseits, das eine Gentechnik ohne Einschränkungen befürwortet, und der "religiösen Rechten" andererseits, für die biotechnologische Freiheiten ein Schrecken sind (FAZ, 9.6.2002).

Auf Distanz zur Bush-Administration und zum NeokonservativismusDie Invasion der US-Truppen in den Irak im März 2003, die die US-Regierung in den größeren Kontext des "Kriegs gegen den Terror" rückte, rechtfertigte F. zwar im Grundsatz, kritisierte aber, dass sie ohne international abgesicherte rechtliche Basis und ohne sorgfältige Vorbereitung stattgefunden habe; die Regierung Bush habe zu einseitig auf militärische Macht gesetzt. In seinem Buch "State Building: Governance and World Order in the 21st Century" (2004) bezeichnete er es als Hauptaufgabe der führenden Nationen der Weltgemeinschaft, Nationalstaaten mit stabilen staatlichen Strukturen aufzubauen, um zu vermeiden, dass schwache oder zerfallende Staaten zur Quelle von Terrorismus und anderen Menschheitsproblemen werden; wobei F. selbst jedoch keine Vorschläge liefere, wie das ‚Staatenbauen’ gelingen könne, wie das Handelsblatt (24.-26.9.2004) bemängelte.

Mit seinem nächsten Buch "America at the Crossroads: Democracy, Power and the Neoconservative Legacy" (2006) sagte F. sich selbst von den Neokonservativen los – obwohl er deren Grundprinzipien immer noch für richtig hielt – und übte harsche Kritik an Bushs Irak-Krieg und seinen nicht bedachten Folgen (vgl. FR, 5.4.2006). F. propagierte stattdessen "Soft Power", d. h. den Primat der Diplomatie und das Einwirken auf Diktaturen durch die Förderung demokratischer Kräfte, wobei er dessen ungeachtet für eine Stärkung der NATO eintrat und – wie Bush – Präventivkriege als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln nicht völlig ausschließen wollte.

Die Geschichte geht weiterMit seinem Buch "The Origins of Political Order" (2011) legte F. eine umfangreiche Beschreibung der Entstehung der modernen politischen Welt von den Anfängen der Geschichte bis zur Französischen Revolution vor - ein zweiter Band, der die Zeit vom Ende des 18. Jhd. bis in die Gegenwart abdecken soll, ist geplant. Seine Grundthese besagt, dass die Geschichte ein ewiger Kampf zwischen dem Staat und Einzelinteressen von Großfamilien, Stämmen oder Clans sei: Nur dort sei es zu einer Bildung von Staaten im modernen Sinn gekommen, wo eine zentrale Regierung diese Einzelinteressen habe bändigen können. Korruption und Vetternwirtschaft seien nach F. eine Art Naturzustand, der zwar überwunden werden könne, was jedoch weder abgeschlossen noch unumkehrbar sei.

Obwohl man aufgrund der zunehmenden Terrorgefahr für den Westen und den Verwerfungen innerhalb der muslimischen Welt – am 29. Juni 2014 rief die islamistische Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) ein Kalifat aus – geneigt sein könnte, Huntingtons These vom Kampf der Kulturen zuzustimmen, wies F. diese erneut zurück, denn diese Kämpfe tobten vorrangig innerhalb der muslimischen Welt und als Systeme basierten sie auf Unterwerfung, was intrinsisch instabil sei. Die Gefahr für den Westen läge laut F. in einer Überreaktion auf die Terrorgefahr, die nicht durch militärische Interventionen gebannt werden könne (vgl. Hbl., 30.9.-3.10.2016). Für F. blieb weiterhin die Idee der marktwirtschaftlichen, liberalen Demokratie der Fixpunkt der Entwicklung. Er sah jedoch auch Gefahren für die liberale Demokratie, und zwar von innerhalb des Systems, nämlich in der Aushöhlung der Mittelschicht durch die neoliberale Deregulierung der Finanzmärkte und die Digitalisierung, die viele Arbeitsplätze wegrationalisiere und von der nur wenige Internetkonzerne extrem profitierten. Die daraus erwachsende Ungleichheit trage zum Aufstieg des Populismus und zu einer immer extremeren, systemgefährdenden Polarisierung bei, weshalb der einstige Neokonservative für eine sozialdemokratische Politik plädierte (vgl. Hbl., 12.3.2015).

Trotz der teils sehr blutigen Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten, erblickte F. in China die größere, weil langfristigere Bedrohung für den Westen. Das riesige Land sei technologisch weit entwickelt, habe große Ressourcen und stelle klare Ansprüche (vgl. FAS, 6.7.2014), wohingegen innerhalb der EU nationalstaatlicher Populismus grassiere. Außerdem gelänge es den liberalen Demokratien nicht in ausreichendem Maße identitätsstiftend zu sein, eine Leerstelle, die Religion, Populismus und autoritäre Nationalstaaten zunehmend füllten.

Mit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Febr. 2022 schaltete sich F. erneut in die öffentliche Debatte ein, prognostizierte eine klare militärische Niederlage Russlands sowie den Sturz des russischen Präsidenten Wladimir Putin und äußerte zugleich Zweifel an der Möglichkeit einer diplomatischen Beilegung des Konflikts (vgl. NZZ, 18.3.2022).

Identität als politische Kategorie2018 erschien das Buch "Identity: The Demand for Dignity and the Politics of Resentment", mit dem F. sich dem ebenfalls von Hegel analysierten Phänomen des Verlangens nach Anerkennung der eignen Identität zuwandte und es als ein Leitmotiv präsentierte, das vielen Ereignissen der Weltpolitik zugrunde liege. "Thymos" nannte der antike Philosoph Platon diesen dritten, sehr wirkmächtigen Teil der menschlichen Seele, neben Vernunft und Psyche. Den Kampf um Anerkennung an sich sieht F. als durchaus positiv, doch er berge auch immer die Gefahr, die F. einen neuen Tribalismus nennt, den er vor allem bei den US-amerikanischen Liberalen und Linken ausmacht, die sich seit den 1980er Jahren verstärkt um die Repräsentation soziokulturell benachteiligter Gruppen kümmerten und darüber die weiße Arbeiter- und untere Mittelschicht aus dem Blick verloren hätten. Diese begriffen sich daher selbst zunehmend als benachteiligt, was sie anfällig für nationalistischen Populismus mache, der durch die Sozialen Medien wie Facebook eine massive Wirkkraft entfalte (vgl. ZEIT, 14.2.2019). Das Buch endet mit Vorschlägen, wie liberale Demokratien der Zersplitterung der Gesellschaft entgegenwirken könnten, z. B. durch Ausfiltern von Verschwörungsinhalten aus den Sozialen Medien, einen Zivildienst für alle, eine auf Bassam Tibi rekurrierende Auffassung von "Leitkultur", die nichts Völkisches enthalte, sondern von allen ein Bekenntnis zu Gleichheit und demokratischen Werten aktiv einfordere, sowie der Stärkung der Außengrenzen.

In der Kritik stieß das Buch auf ein geteiltes Echo. DIE ZEIT (ebd.) z. B. befand, dass F.s Thesen zwar nicht neu seien, es diesem aber gelänge, "die globale Dimension der Identitätsproblematik zu erfassen und dabei die ökonomischen Faktoren mit den politischen Emotionen in Beziehung zu setzen." Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (15.3.2019) hingegen fand F.s Argumentation nicht stichhaltig, denn auch die von Gewerkschaften in den 1970ern betriebene Klassenpolitik sei partikularistisch und somit streng genommen identitätspolitisch gewesen; F. unterschlage zudem die fundamentale Differenz von rechten und linken Bewegungen. Während erstere auf die Wiedererlangung von verlorenen Vorteilen abzielten, strebten letztere nach der zukünftigen Aufhebung von realen Benachteiligungen.

Familie

F. ist verheiratet mit Laura Holmgren, das Paar hat drei Kinder (Julia, David und John). Er ist Hobbyfotograf und Amateur-Möbeltischler.

Werke

Veröffentlichungen u. a.: "The End of History" (89; in National Interest), "The End of History and the Last Man" (92; dt. Das Ende der Geschichte), "Trust: The Social Virtues and the Creation of Prosperity" (95; dt. Konfuzius und Marktwirtschaft. Der Konflikt der Kulturen), "The End of Order" (97), "The Great Disruption: Human Nature and the Reconstitution of Social Order" (99; dt. Der große Aufbruch. Wie unsere Gesellschaft eine neue Ordnung erfindet), "Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolution" (02; dt. Das Ende des Menschen), "State Building: Governance and World Order in the 21st Century" (04; dt. Staaten bauen: Die neue Herausforderung internationaler Politik), "America at the Crossroads: Democracy, Power and the Neoconservative Legacy" (06; dt. Scheitert Amerika? Supermacht am Scheideweg), "After the Neocons" (06), "Nation building: Beyond Afghanistan and Iraq" (06), "Falling Behind: Explaining the Development Gap between the United States and Latin America" (08), "The Origins of Political Order: From Prehuman Times to the French Revolution" (11), "Identity: The Demand  for Dignity and the Politics of Resentment" (18; dt. Identität: Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet"). Darüber hinaus Beiträge in Zeitungen und Fachzeitschriften.

2022: Francis Fukuyama: "Der Liberalismus und seine Feinde". Aus dem Englischen (2022).

Auszeichnungen

Auszeichnungen u. a.: Ehrendoktor des Connecticut College, des Doane College, der Doshisha Universität (Japan), der Kansai Universität (Japan) und der Aarhus Universität (Dänemark); Los Angeles Times Book Critics Award, Premio Capri.

Mitgliedschaften

F. ist u. a. Kuratoriumsmitglied der RAND Corporation, Vorstandsmitglied der Nationalstiftung für Demokratie, Mitglied in der American Political Science Association, im Council of Foreign Relations, im Pacific Council on International Policy, im Global Business Network, im Beirat des Instituts für Internet-Politik sowie Mitglied im Herausgebergremium des Journal of Democracy, der Zeitschriften Inter-American Dialogue und The New America Foundation.

Adresse

c/o Freeman Spogli Institute for International Studies, Encina Hall, 616 Serra Street, Stanford, CA 94305-6055, U.S.A., Tel.: +1 650 7233214, E-Mail: f.fukuyama@stanford.edu, Internet: https://fukuyama.stanford.edu



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