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MUNZINGER Personen

Willi Seidel

deutscher Verwaltungsbeamter; Oberbürgermeister der Stadt Kassel (1945-1954)
Geburtstag: 1. November 1885 Kassel
Todestag: 9. März 1976 Kassel
Nation: Deutschland - Bundesrepublik

Internationales Biographisches Archiv 02/2018 vom 9. Januar 2018 (kg)


Herkunft

Willi Seidel wurde 1885 in Kassel geboren.

Ausbildung

Nach dem Besuch der Oberrealschule begann S. am 1. Sept 1903 als Beamtenanwärter die Ausbildung im kommunalen Dienst seiner Heimatstadt.

Wirken

VerwaltungskarriereVon 1909 bis 1926 durchlief S. die mittlere Beamtenlaufbahn, u. a. ab 1914 als Magistratssekretär, bis er im Okt. 1927 als Direktor an die Spitze der Verwaltung der Stadt Kassel berufen wurde. 1924 wurde er für die nationalliberale Deutsche Volkspartei Stadtverordneter. Nach dem Machtantritt der Nationalsozialistischen Partei NSDAP ließ sich S. mit Wirkung zum 1. Juni 1933 als Leiter des Personalamts, das er inzwischen innehatte, entbinden, nachdem ihm laut eigenen Aussagen mitgeteilt worden war, dass er "nicht das Vertrauen der NSDAP" besitze. Allerdings galt er nicht als "ausgesprochener Gegner des NS-Regimes" (Stadt Kassel, 2.10.2013). Danach wurde er zum Leiter des städtischen Versicherungsamtes bestellt. Ab 1935 organisierte er die verwaltungstechnische Eingliederung von Nachbargemeinden (Harleshausen, Nieder- und Oberzwehren, Nordshausen, Waldau, Wolfsanger), die 1936 Teile der Stadt Kassel wurden. 1937 übernahm er die Leitung der Wehrwirtschaftspolitischen Abteilung der Stadtverwaltung.

Oberbürgermeister von KasselNach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Besetzung Deutschlands durch die Alliierten wurde S., der politisch inzwischen der SPD angehörte, von der US-amerikanischen Militärregierung am 7. April 1945 zum kommissarischen Oberbürgermeister bestellt. Gleichzeitig genehmigte sie die Einrichtung eines kommissarischen Magistratskollegiums (Verwaltungsbehörde), das am 10. Jan. 1946 erstmals zusammentrat. S. wurde am 26. Juli 1946 von der im Mai gewählten Stadtverordnetenversammlung für zwei Jahre zum Oberbürgermeister der Stadt Kassel gewählt. In der zerstörten Innenstadt griff S. laut Augenzeugenberichten selbst zur Schaufel, um mit Einwohnern Trümmerschutt wegzuräumen, organisierte auf dem Land Lebensmittellieferungen und beschaffte Eisenträger für den Neubau der gesprengten Fuldabrücke (Stadt Kassel, 2.10.2013).

1948 wurde er in seinem Amt bestätigt. Bei der Wahl hatte er einen Gegenkandidaten, den Juristen Dr. Fritz Oellers, den die FDP ins Rennen schickte. Beide Kandidaten hatten jeweils 29 Stimmen der Stadtverordneten erhalten, worauf nach dem damaligen hessischen Wahlgesetz das Los entscheiden musste, das auf S. entfiel, der damit eine sechsjährige Amtszeit bis 1954 antrat. In der Folgezeit setzte er sich für den Wiederaufbau der Stadt ein - so ging die Errichtung eines Hauses der Jugend, das 1953 eröffnet wurde, von ihm aus -, er regte wichtige Projekte für die Nachkriegsentwicklung der Stadt an und bereitete zwei seiner großen Visionen vor: 1955 - ein Jahr nach seinem Ausscheiden aus dem Amt, fanden die erste Bundesgartenschau und die erste "documenta" - inzwischen eine der weltweit größten Ausstellungen moderner Kunst - in Kassel statt.

Weitere PostenDanach war S. Vorsitzender des Vorstandes der Stadtsparkasse Kassel und stellv. Vorsitzender des Hessischen Sparkassen- und Giroverbandes Frankfurt a.M., Mitglied des Verwaltungsrates der Landeszentralbank von Hessen in Frankfurt und zahlreicher anderer Aufsichtsräte. 1953 wurde er mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Diskussion um NS-VergangenheitMit der Veröffentlichung des Buches "Kassel in der Moderne" im Jahr 2013 stießen die Autoren Jens Flemming und Dietfrid Krause-Vilmar eine Debatte über die NS-Vergangenheit von Kasseler Oberbürgermeistern (S., Lauritz Lauritzen und Karl Branner) an. Die Stadt Kassel beauftragte daraufhin Historiker und Wissenschaftler mit der Untersuchung der drei Politikerbiographien (www.stadt-kassel.de, 23.1.2014). Die 2015 veröffentlichte Studie "Vergangenheiten" ordnete S. als "stark NS-belastet" ein. Als Leiter der Wehrwirtschaftspolitischen Abteilung sei er für die "Arisierung des Wohnraums" und die Einrichtung von Judenhäusern zuständig gewesen, in denen Juden in Vorbereitung ihrer Deportation zusammengelegt worden waren (www.hna.de, 13.5. und 19.5.2015). Außerdem war er organisatorisch mit der Verwaltung der Kriegsgefangenenlager für Ausländer betraut. Nicht eindeutig klären konnten die Wissenschaftler die Frage nach S.s Parteizugehörigkeit. Er habe 1937 einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP gestellt, dieses Dokument sei vorhanden, ob S. aber aufgenommen worden war, blieb unklar, da entsprechende Akten fehlten. In Briefen der NSDAP-Gauleitung sei er allerdings mit "Bürodirektor Pg." (Parteigenosse) angeschrieben worden (www.hna.de, 29.10.2013). Die Autoren der Studie kamen aufgrund der gefundenen Belege zu dem Schluss, dass S. dem Nationalsozialismus näher gestanden habe, als er später einräumte. Er habe keine Verbrechen begangen, hätte seine Rolle in der NS-Zeit aber auch nicht verschweigen dürfen, zumal in den im Juni 1945 auch von S. mitverfassten Grundsätzen der Stadt keine Personen im Magistrat sitzen durften, die Mitglieder der NSDAP, der SA oder der SS gewesen waren (vgl. www.hna.de, 3.10.2013). Im Zusammenhang mit der Debatte um mögliche NS-Verstrickungen von S. kamen auch Fragen auf, ob ihm nicht seine Ehrungen aberkannt werden sollten und das Haus der Jugend noch seinen Namen tragen dürfe. Ein Enkel von S., Dr. Lutz Morgner, nahm S. in Schutz und erklärte, sein Großvater sei ein "Beamter preußischer Prägung" gewesen, der nur seiner Stadt dienen wollte. Er hätte dem "Gedankengut des Nationalsozialismus immer ablehnend gegenübergestanden" (www.hna.de, 29.10.2013). Der Kasseler Autor Heinz Körner (SPD) erklärte, S. habe sich nach dem Krieg als "wahrer Demokrat erwiesen und die Stadt nach vorne gebracht" (www.hna.de, 11.6.2015).

Familie

S. war verheiratet und hatte Kinder. Am 9. März 1976 starb S. 90-jährig in Kassel.

Literatur

Literatur: Jens Flemming, Dietfrid Krause-Vilmar: "Kassel in der Moderne" (13), Sabine Schneider, Eckart Conze, Jens Flemming, Dietfrid Krause-Vilmar: "Vergangenheiten. Die Kasseler Oberbürgermeister Seidel, Lauritzen, Branner und der Nationalsozialismus" (15).

Auszeichnungen

Ehrungen/Auszeichnungen: Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland (53), Ehrenbüger der Stadt Kassel (70), Ehrengrab der Stadt Kassel, Benennung des Hauses der Jugend in Kassel zum Willi-Seidel-Haus.




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