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Stephan Thome, geboren als Stephan Schmidt am 23. 7. 1972 im hessischen Biedenkopf; studierte an der Freien Universität Berlin Philosophie, Sinologie und Religionswissenschaft und promovierte 2004 über konfuzianische Philosophie. Es folgten Auslandsaufenthalte in China, Japan und Taiwan, wo er von 2005 bis 2011 an der Universität in Taipeh tätig war. Seit 2011 ist Thome freier Schriftsteller. Er lebt in Taipeh und war 2022 Mitbegründer des PEN Berlin.
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Mit „Grenzgang“ legte Stephan Thome 2009 sein literarisches Debüt vor. Der Roman fand eine ausgesprochen wohlwollende Aufnahme bei Publikum und Kritik, erhielt den aspekte-Literaturpreis und gelangte auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Die Handlung ist in der fiktiven hessischen Kleinstadt Bergenstadt situiert, in der traditionell alle sieben Jahre ein sogenanntes Grenzgang-Fest stattfindet, das nicht nur den Lebensrhythmus des Städtchens, sondern auch die Struktur des Romans vorgibt. Thome wechselt achronologisch erzählend zwischen den Festen von 1985 bis 2013 und entfaltet puzzleartig die Lebensläufe seiner zwei Hauptpersonen, der geschiedenen Mutter Kerstin Werner und des Lehrers Thomas Weidemann.
Die jeweiligen Feierlichkeiten des Grenzgangs bilden dabei immer auch Kulminationspunkte der Geschehnisse, sie korrespondieren mit entscheidenden Einschnitten im Leben der Protagonisten: Sie lernen sich während der Feste kennen, trennen sich, werden mit den Wendepunkten ihres Lebens konfrontiert. 13 Kapitel sowie ein Epilog sind in drei Abschnitte gegliedert, die in ihren Titeln das Motiv des „Grenzgangs“ aufnehmen, die Worte „Der Stein … die Grenze … in Ewigkeit.“
Dieser Plot erweist sich als so unterhaltsam wie schlicht. Zwar ist die Erzählstruktur aufgrund der Zeitsprünge und der ständigen Perspektivenwechsel durchaus komplex, und die Figuren sind keineswegs eindimensional gestaltet. Auch erzählt Thome über weite Strecken auf hohem sprachlichem Niveau. Dennoch überzeugt die erzählerische Anlage des Romans aus mehreren Gründen nicht.
Zum einen vermag Thome nicht von der angesprochenen Eindimensionalität des Handlungsstranges abzulenken. Was sich schon früh vermuten lässt – dass zwei durch das Leben Treibende zueinanderfinden und sogar heiraten –, tritt schließlich ein. Die Zweifel, die den Figuren kommen, als sie als Paar endlich vereint sind, entbehren einer tieferen Glaubwürdigkeit und erscheinen als wenig zielführender Versuch des Autors, die Entwicklung nicht allzu sehr nach einem banalen Happy End aussehen zu lassen. Auch dass dieser eigentliche chronologische Schluss des Plots nicht im Epilog erzählt wird, sondern im Kapitel zuvor, ergibt keinen erkennbaren Sinn.
Ebenso wenig überzeugt die Krisis in der Handlung des Romans, als sich die sich vorsichtig aufeinander einlassenden Figuren zufällig und beide eher unfreiwillig in einem Swingerclub begegnen und sich daraus beinahe das Ende der Annährung ergibt. Thomes Plot zeigt sich auch hier konstruiert und konventionell, ein klassisches dramatisches Moment soll den Roman ein wenig aufpeppen, weist jedoch in Anlage und Durchführung alle Merkmale des Trivialen auf.
Auch die Gestaltung der Figuren sowie der Erzählsituation – erzählt wird in personaler Engführung mit interner Fokalisierung im Wesentlichen abwechselnd jeweils aus der Perspektive der beiden Protagonisten – erscheint problematisch, weil sich beide Stimmen nicht signifikant unterscheiden und es Thome nicht gelingt, eine genuin weibliche Sichtweise darzustellen. Beide Protagonisten sind in ihrer Sprech- und Denkweise kaum zu unterscheiden. Der Leser hat beständig direkten Einblick in die Gedankenwelt beider Figuren, die einen deutlich zu hohen Grad an intellektueller Selbstreflexion, situativer Abgebrühtheit und psychologischer Über-Raffinesse aufweisen. In ihrer Gedankenwelt tummelt sich fortwährend und ununterscheidbar das Über-Ich des Erzählers, und dieser Umstand arbeitet kontraproduktiv und anstrengend gegen die eigentlich intendierte realistische Erzählhaltung des Romans. Ein typisches Beispiel dafür ist ein Gedanke Kerstins während der ersten Liebesnacht: „Im Übrigen weiß sie: Ihrem Lachen ist anzusehen, dass es zwar nicht gespielt, aber auch nicht spontan ist, sondern eher der bewusste Versuch, Weidmann für seine Erzählung ein Dankeschön zu bezeugen.“
Und als Kerstin während des Grenzgangs dem Freund der Geliebten ihres Mannes begegnet, der ihrem Mann Prügel androht, versteigt sie sich zu folgender Analyse der Beziehung des jungen Mannes zu seiner Freundin: Er „stand ihrer Attraktivität wahrscheinlich wie etwas Heiligem gegenüber, das er beständig der Verehrung versichern musste, auch wenn er nicht umhinkonnte es zu entweihen. Unterwürfig und dankbar, mit gelegentlichen Kompensationsversuchen in herrischer Männlichkeit. Sie glaubte ihm das vom Gesicht ablesen zu können, während er sie mit stummen Blicken anzuflehen schien.“ Dieser Gedanke ist nicht nur von erstaunlicher populär-psychologischer Schlichtheit, er ist vor allem in der Situation, in der er situiert ist, völlig unangemessen.
Die Reihe wenig gelungener Beschreibungen setzt sich in der Szene fort, in der Kerstin und Thomas erstmals miteinander schlafen. „Hinterbacken“, „Po“, „Schoß“, „lustspendendes Organ“ – die Begrifflichkeit, mit der Thome Erotik zu evozieren sucht, bewirkt in ihrer Biederkeit das Gegenteil. Dieser ausgiebig erzählte Höhepunkt des Buches ist literarisch so betulich wie ungeschickt. „Das Schlafzimmer empfängt ihn dunkel und mit der Frage nach Verhütung“ heißt es, kurz bevor es zum Akt kommt. Mehr als eine verunglückte Stilübung zur rhetorischen Figur des Zeugmas ist das nicht, und wird auch in der Wiederholung – „Kerstin lässt den Oberkörper nach vorne und ihr Haar auf sein Gesicht fallen“ – nicht virtuoser.
Solche Beispiele ließen sich noch reichlich anführen; der Roman wirkt an vielen Stellen eher bemüht als gelungen, erzähltechnisch überfordert und psychologisch überfrachtet. Die Kritik allerdings sieht all dies nicht oder nur ganz am Rande und lobt den „Grenzgang“ einhellig und in den höchsten Tönen. Einen Roman von „fast unheimlicher Perfektion“ hat Andreas Isenschmid gelesen. Volker Hage feiert in Thome einen „Meister der Dialogkunst“ und ist der Meinung: „(…) lange hat es in der deutschen Literatur kein derart reifes Debüt gegeben.“
Was aber lässt erfahrene Kritiker unisono übersehen, dass handwerklich nicht alles tadellos ausgeführt ist, dass offensichtliche Schwächen zu bemerken sind? Die Rezensenten heben wiederholt darauf ab, dass die Situierung in der angeblich literarisch so lange vernachlässigten deutschen Provinz den Roman interessant, gar wichtig mache. Der Grad der Selbstreflexion der sich auf Identitätssuche befindenden Figuren erscheint spannend, zudem sind die Probleme, die beschrieben werden, lebensnah und jedem bekannt. Es erscheint als gelungener Wurf, dass die Protagonisten keine neurotischen Außenseiter oder Exzentriker sind, sondern der akademischen Mittelklasse angehören, die sich offensichtlich zu Recht und vor allem auch richtig in ihrer Lebenssituation dargestellt findet. Das macht die Figuren in sehr hohem Maß identifikationsfähig. Der Roman hat offensichtlich einen Nerv getroffen, und genau dies klingt in den enthusiastischen Rezensionen durch. Das Durchschnittliche, Kleinstädtische und Mittelständig-Provinzielle sind zum großen Teil mit ursächlich für die Faszination, die „Grenzgang“ ausübt.
In seinem zweiten Roman „Fliehkräfte“ (2012), der es erneut auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, bleibt sich Thome in vieler Hinsicht treu.
Thome arbeitet auch hier mit vielen Rückblenden, in denen während der Reise das Leben des Protagonisten und die Strukturen seiner Beziehungen entfaltet werden. Die Erzählsituation, erneut als personale Engführung gestaltet, gleicht der in „Grenzgang“, doch arbeitet Thome diesmal wesentlich authentischer. Die Erzählinstanz bleibt zurückhaltender, sodass der Roman im Vergleich zu Thomes Debüt erzähltechnisch reifer, atmosphärisch dichter und auch psychologisch glaubwürdiger gestaltet erscheint. „Fliehkräfte“ bietet eine gelungene Milieustudie gehobener Akademikerkreise, die als psychologisch fein beobachtendes, literarisches Roadmovie gestaltet ist.
Die Kritik lobt erneut Thomes Kunst: Sein „Sittengemälde der Bundesrepublik“ sei von „gesellschaftsrelevanter“ und „verstörender menschlicher Tiefe“. Der „feinfühlig gehandhabte psychologische Realismus“ wurde gelobt und den sprachlichen Bildern „Eleganz“ attestiert. „Glänzende Dialoge“ machten „Fliehkräfte“ zu einem „herausragendem Roman“. Interessanterweise wird das Ende – obwohl völlig offen gestaltet – vereinzelt als Happy End wahrgenommen. Die Frage, woran das liegen könnte, führt zu der Feststellung, dass ein versöhnliches Ende in der Handlung und der Figurengestaltung im Grunde deutlich angelegt ist. Es gelingt Thome auch in „Fliehkräfte“ nicht, den Plot und die Figuren sozusagen über sich selbst hinauszuführen. Sie stellen sich zwar infrage – allein, dies geschieht nicht mit der Vehemenz, die eine andere Antwort als die immer schon gegebene erwarten ließe. Infolgedessen erscheint das offene Ende des Romans nur als eine wenig überzeugende Flucht vor der zu glatten Erzählung.
Zudem fällt es schwer, die letztlich unzeitgemäß wirkende Gestaltung der Figuren zu übersehen: Maria ist eine typische, sich selbst verwirklichende Akademikerin, die sich dies aber nur auf Kosten des Versorgers leisten kann und es umso selbstbewusster unternimmt, schließlich aber die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen eingestehen muss. Dass die Tochter lesbisch ist, bringt die toleranten Akademiker psychisch ins Wanken, aber sie halten es dann doch brav aus. Die Schwester des Protagonisten ist glückliche Mutter und damit völlig ausgefüllt. Eine ehemalige Geliebte gibt die verbitterte Dekanin, die Hainbach aus Rache den heiß ersehnten Universitätswechsel nach Berlin verbaut. Und dann ist da die Sekretärin, mit der sich beinahe ein allzu klassisches Verhältnis anbahnt. Es gibt die alte Liebe, auf die Hainbach so lange gewartet hat, die aber zu chaotisch war, um das zu realisieren, und die junge, interessante Tramperin, die den Mann, der ihr Großvater sein könnte, dennoch anziehend findet.
Auch die Figur des zweifelnden Professors selbst, der mit der gebotenen kritischen Distanz auf den akademischen Betrieb blickt, sich aber letztlich nicht von ihm lösen kann, ist recht eigentlich ein Klischee. Hainbach kümmert sich um die schwierigen Fälle der Uni und bringt sie zum Abschluss, er positioniert sich gegen universitäre Exzellenz und Masterstudiengänge. Ebenso verhält es sich mit dem Taxi fahrenden Architekten und dem ausgestiegenen Juniorprofessor, der jetzt eine Bar in Südfrankreich führt. Diese Figuren vermögen problemlos das Personal des entspannten abendlichen Fernsehfilms zu stellen. Es sind in Summe und in der Ausführung durch die Bank Rollenklischees aus dem akademischen Establishment, denen wenig Überraschendes abzugewinnen ist.
Thomes Romane reihen sich ein in eine Tendenz gegenwärtiger Literatur zu einer realistischen Erzählweise. Während viele Autoren sich dabei aber immer auch an Metathemen abarbeiten, bleibt Thome im Wesentlichen den Befindlichkeiten seiner Figuren verpflichtet. Dies findet mehrheitlich großen Beifall und scheint einem Bedürfnis gerecht zu werden, den Alltag und seine Bewältigung wirklichkeitsgetreu, und eben nicht zu dramatisch, zu pointiert oder gar verfremdet abgebildet zu finden, und wird beispielsweise von Dirk Knipphals als ein Anschluss an Erzählweisen und Themen amerikanischer Literatur begrüßt. Dass dabei konservative Rollenbilder transportiert werden, tut dem Erfolg keinen Abbruch und dringt in der Rezeption kaum ins Bewusstsein.
Lediglich Alexander Cammann wertet in seiner Kritik anders. Er spricht Thomes Romanen aus einem anderen Literaturverständnis heraus den Status von Unterhaltungsliteratur zu. Dem ist insofern zuzustimmen, als die Probleme der Protagonisten sicher eine gewisse Relevanz haben, Thome sich jedoch aus der reinen Abbildung von Realität und somit der Nabelschau seiner Figuren nicht zu lösen vermag. Eine darüber hinausgehende Bedeutung, etwa gesellschaftspolitischer Art, ein interessanter Sub- oder Metatext sind nicht auszumachen.
Natürlich: Diskussionen um die Aufgabe und den Stellenwert von Literatur hat es immer schon gegeben. Sei es beim Lʼart pour lʼart, sei es im Umkreis der Postmoderne oder im Zusammenhang mit der älteren oder neueren Popliteratur. Doch die teils radikale ästhetische Neuausrichtung und ihre Dialektik der produktiven Auseinandersetzung mit dem Bestehenden, die diesen Literaturen dann schließlich doch zu ihrem Recht verhalf, bleibt Thome in seiner gekonnten, aber konventionellen Erzählweise bislang schuldig. Dass seine Romane dennoch gerade auch für ihre literarischen Fähigkeiten so gelobt und für preiswürdig erkannt werden, ist möglicherweise ein Hinweis auf ein sich änderndes Literaturverständnis.
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